Verdirbt Streaming den Musikgeschmack?

Überfluss kann sich auf das Konsumverhalten auf verschiedenste Weisen auswirken: Entweder verdirbt er den Geschmack, weil er die Hemmschwelle senkt, sich auch durch oberflächlich widerspenstige – aber im Kern sehr leckere Brocken – durchzubeißen. Oder er erweitert den Horizont, weil auf einmal Leckerbissen in Reichweite sind, die vorher nicht zugänglich waren. Übertragen auf meinen Musik-Konsum habe ich mir die Frage gestellt: Wie haben Spotify & Co meinen Musikgeschmack und vor allem meine Art, wie ich Musik konsumiere, verändert?

Ohne Musik geht es bei mir nirgendwohin. Egal ob Freizeit, Sport oder im Büro. Egal ob bewusstes Hören oder Hintergrundrauschen, Musik ist meine eigene Welt zum Mitnehmen. Ich habe schon früh angefangen, CDs zu sammeln (Ja, tatsächlich echte handfeste Speichermedien mit Cover, Booklet und allem drum und dran). Im Schrank tummeln sich deshalb ganze Diskographien von Amon Amarth bis Within Temptation (fragt mich nicht, was mich da geritten hat). Von (halblegalen) mp3 Downloads habe ich nie etwas gehalten. Ich hatte immer das Gefühl, dass Musik, für die der Künstler nicht irgendeine Form von Gegenleistung erhält, weniger wert ist. Bis vor einem Jahr habe ich daher Reviews gelesen, CDs gekauft und selber digitalisiert. Meine Musikbibliothek wuchs dementsprechend auf dutzende Gigabytes an.

Die Grenzen der Hosentasche

Also alles gut im Metal-Land? Leider nein, denn lokal gespeicherte Musik hat den Nachteil, dass trotz aller SD-Karten oder 64 GB Smartphones irgendwann der Speicherplatz nicht mehr mithalten kann. Früher oder später steht man vor der Entscheidung: Wer geht und wer bleibt: Muss die erste In Flames wirklich noch mit aufs Handy? Und wann habe ich eigentlich zum letzten mal wirklich ein Cannibal Corpse Album durchgehört? Der kreative Output junger Truppen oder das Klein-Od aus der Urzeit des Thrash-Metals lässt einem einfach keine Wahl: Irgendwann passt die gesamte Sammlung nicht mehr in die Hosentasche.

Dazu kommt: Nicht nur der Speicher ist begrenzt, sondern auch der Geldbeutel. Seit Character haben Dark Tranquility doch arg stagniert: Lohnt sich da der Vollpreis zum Release des neuesten Werkes? Und wenn ja, wer bezahlt mir dann die neue Ghost Brigade im nachfolgenden Monat?

So kommt es, wie es kommen muss. Der treue Plattensammler verrät sein Sammlerherz und häuft auf einmal statt Stapeln von CD-Hüllen digitale Playlisten an.

Streaming macht faul

Der Rausch der ersten Streaming Tage ist unbeschreiblich. Das Erstlingswerk von Devian? Bisher zu uninteressant für den Vollpreis! Necrophobics Death To All? Gern, aber woher nehmen, wenn nicht stehlen? Dank der Musik-Cloud sind diese Bedenken nun kein Thema mehr, denn die Online Bibliothek ist groß. So groß, dass in den ersten Monaten dutzende „Wollte ich schon immer reinhören“ und „Wie sind die denn so“ Bands abgegrast werden. Statt Fehlkäufen winkt die Skip Taste. Was nicht gefällt, wird in bester Flat-Rate-Manier übersprungen, bis der nächste Ohrwurm den verwöhnten Gehörgang füllt.

Der schleichende Prozess, der dabei einsetzt, bleibt mir zunächst verborgen. Aber irgendwann ist kein Kraut mehr gegen die Erkenntnis gewachsen, dass Musik-Streaming faul macht. Zündet der Song nicht sofort, tut es vielleicht der nächste. Die Bereitschaft, sich durch ein gesamtes Gojira Album zu arbeiten, wird durch einzelne heftige Affären mit One-Hit-Wondern ersetzt. Natürlich: Für Entdeckungen wie Dissections Reinkaos oder Belphegors Black Magick Necromance bin ich noch immer dankbar, aber trotzdem finden sich auch immer mehr kuriose Sachen  in meinen Playlists (Birdy? Wirklich? Birdy?!). Was ist aus der Bereitschaft geworden, sich auch in progressivste Ambient-Dark-Metal-Brocken reinzuhören? Wo wäre ich heute ohne Becoming The Archetype oder Extol? Hätten Sie mein aktuelles Fast-Food-Musik-Streaming überlebt? Ich rede mir ein, ich hätte derartige musikalische Genies nicht verpassen können, aber der Verdacht ist nicht mehr abzuschütteln: Die Skip-Taste ist einfach deutlich leichter zu bedienen, wenn man nicht gerade 17 € in einen Silberling investiert hat.

Mobil und unaufmerksam

Musikstreaming bringt aber nicht nur einen Überfluss an Auswahl, sondern auch einen Überfluss an Hörmöglichkeiten. Während früher der mp3-Player nach sorgsamer Vorauswahl bestückt wurde, ist das Smartphone immer dabei und dank Spotify & Co immer voll beladen mit den brandneuesten Songs. Spezialisierte Musik-Abspielgeräte der alten Schule sind zwar nicht weniger mobil, brauchen aber doch den kleinen Extra-Aufwand, erstens an sie zu denken und zweitens die neuesten Platten auch wirklich drauf zu kopieren. Beides wird nur zu oft durch die menschliche Vergesslichkeit verhindert. Dagegen kann ich die Gelegenheiten an einer Hand abzählen, bei denen ich in den letzten Jahren ungewollt ohne Smartphone aus dem Haus ging. Das Ergebnis: Statt im Bus zum 13ten mal das Intro von Vreid’s Arche zu hören, kann ich sicher sein, dass der Ohrwurm von gestern Abend auch jetzt dabei sein wird. Dank hundertprozentiger Verfügbarkeit wird Musik so auch dank der Mobilität der Wiedergabegeräte immer mehr zum Instrument für den akustischen Rückzug als zu einer Gelegenheit für bewussten Kunstgenuss: Hauptsache was auf den Ohren.

Vertrage ich kein Schwarzbrot mehr?

Wenn ich meine Playlists heute nach über einem Jahr Streaming ansehe, muss ich mir die Frage gefallen lassen, ob sich mein Musikgeschmack verändert hat. Natürlich tummeln sich auch nach wie vor ehrenwert harte Truppen von Panzerchrist bis Vader in meiner digitalen Bibliothek, aber die meist gespielten Bands sind aktuell andere: Demon Hunter, Avatar, Evergrey … alles nicht gerade Bands, deren Stil einen aufrechter Extrem-Metaller definieren. Woran liegt es? Ist meine Hemmschwelle derart gesunken, dass ich außer seichtem Hintergrundgedudel nichts mehr vertrage? Hat das Überangebot mich so abgestumpft, dass ich es verlernt habe, sperrige Interpreten lieben zu lernen? Hat mich der überall verfügbare Dauerkonsum immun gemacht gegen „gute Musik“? Oder ist das alles gar meinem fortschreitenden Alter geschuldet?

Was auch immer es sein mag: Meine Entscheidung steht fest. Es muss etwas getan werden! Im Anfall einer ersten Hyperaktivität gelobe ich die Umsetzung folgender drei Direktmaßnahmen:

1. Die Skip-Taste ist tabu (außer der Song geht wirklich gar nicht, gaaaar nicht!).

2. Spätestens nach dem 10ten Replay wird die Platte auch physikalisch gekauft (oder jedenfalls auf die Amazon-Wunschliste geschoben).

3. Schwarzbrot soll wieder eine Chance haben. Im Anschluss an diese Zeile gibt es erst einmal wieder drei Songs aus der Anfangszeit von Tourniquet.

Was bleibt, ist die Frage an euch, werte Streaming-Opfer: Hat euer Musikgeschmack den „Skip-Tasten-Test“ überstanden oder habt auch ihr bedenkliche Abflachungen im Niveau festgestellt? Habt ihr vielleicht völlig abweichende Erfahrung und konntet euch dank Spotify & Co aus der Fessel des Radio-Pop-Rock-Gedudels befreien?

See you in the comments!

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