The long goodbye: Warum Windows Phone ohne mich sterben darf

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Hallo, hier schreibt DMM. Die folgenden Zeilen sind ein Gastbeitrag. Der erste hier im Blog überhaupt, um genau zu sein. Und sofort handelt es sich um ein Thema mit höchstem Drama-Potential: Den Abschied von Windows Phone. Aber genug der Vorrede. Die restlichen Zeilen stammen von Christian, einem Windows Phone Enthusiasten, mit dem ich viele meiner eigenen Microsoft- und Windows Phone-Artikel gedanklich entworfen habe.

Jeder Tag kann ein Glückstag sein, wenn man nur warten kann.

– Roland Leonhardt

Microsoft, das ist so etwas wie eine schwierige Freundin. Eine, mit der man Pferde stehlen könnte, wenn sie einen nur nicht ständig versetzen würde. Aber der Reihe nach.

2012 bekam ich erstmals das Lumia 800 in die Hand und es war tatsächlich Liebe auf den ersten Blick: das nahtlos ins Gehäuse übergehende Glas, der schicke Unibody, eine dedizierte Kamerataste. Dazu ein Betriebssystem, das im Design geradezu radikal war: Windows Phone 7; Farbflächen und Typographie. Na gut, dass ich ab und zu einen Anruf verpasste, weil ich wegen eines Spiels die Lautstärke reduziert hatte? Geschenkt! Dass ich immer die sperrige Zune-Software brauchte, um auch nur ein Foto von dem Gerät herunterzukriegen? Halb so wild!

Man wird wunderlich, wenn man verliebt ist.

Und Microsoft arbeitete hart an diesem radikalen System. Nachdem sogar neumodisches Zeug wie Copy & Paste nachgerüstet worden war, keimten die ersten Gerüchte über Windows Phone 8. Alles würde noch besser, hieß es. Allerdings – nun ja – nicht für bestehende Geräte wie mein Lumia 800 oder das gerade veröffentlichte Lumia 900: falscher Prozessor und so.

Alles neu mit WP8

Ja, Microsoft ist radikal. Wenn es um die Verbesserung des Systems geht, muss man auch mal alte Zöpfe abschneiden. Oder alte Kunden. Egal! Ich kaufte mir ein Lumia 820. Größer, schwerer (schwer genug, um damit ernsthaft Leute zu verletzen) und mit wechselbarer Schale. Heissa, das war wie früher beim Xpress-On-Cover fürs Nokia 3510. Und zum ersten Mal hatte ich eine SD-Karte zur Verfügung. Gut, man konnte nur Fotos darauf speichern und keine Apps, aber hey: SD-Karte! Das mit der Lautstärke hatte sich nicht verändert, aber Windows Phone schien auf einem guten Weg. Die Kacheln waren flexibler, der Browser besser, und mit den „Räumen“ und dem darin integrierten Familienbereich hatte Microsoft wieder so einen Geniestreich gelandet: Noch nie war es so einfach gewesen, Termine, Notizen und Fotos mit der Familie zu teilen. Räume waren fortan ein Feature, das ich immer erwähnte, wenn ich anderen mein Windows Phone zeigte. Der Glance-Screen tat sein Übriges. Das war Productivity, bevor Satya Nadella das Wort überhaupt gedacht hatte.

Als das Surface-Tablet billiger wurde, beschloss ich, auch dort mal hineinzuschnuppern. Irgendwas musste da dran sein. Microsoft hätte schließlich nicht einfach so ARM-basierte Tablets gebaut, ohne einen echten – einen todsicheren – Plan zu haben. Und außerdem war es das ideale Tablet für Windows Phone-User, dachte ich. Stattdessen bekam ich ein Tablet, dessen App-Angebot noch spärlicher als das meines Handy war und das im Standby entweder den Akku leersaugte oder sich einfach direkt nicht mehr einschalten ließ.

Zum ersten Mal kamen mir Zweifel daran, ob die bei Microsoft das wirklich ernst meinten.

WP 8.1: Feinschliff und grobe Mängel

Meine Zweifel waren wie weggefegt, als Windows Phone 8.1 erschien: Action-Center, verbesserte Onedrive-Integration, neue Kachelreihe, Apps einfach auf die SD-Karte auslagern. Und getrennte Lautstärkeregler! Die Jungs aus Redmond hatten es eben drauf. Und doch begann zunehmend die App-Knappheit zu nerven. Es ist nicht so, dass ich darauf erpicht wäre, ununterbrochen neue Apps zu installieren. Für meine tägliche Arbeit hatte ich alles, was ich brauchte. Aber wann auch immer irgendwo in der Öffentlichkeit von einer App die Rede war, die man sich zu diesem oder jenem Zwecke hätte herunterladen können, stellte sich bei mir milde Frustration ein. Ja, herunterladen für Android und iOS, nicht aber für Windows Phone.

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Apps für alle, aber nicht für mich.

Es war der öffentliche Nahverkehr genauso wie die Museen im Lande oder das Gewinnspiel in der Zeitschrift. Auch Videos mit Amazon Prime waren unter Windows Phone oder Windows RT schlicht kein Thema. Wenn der App-Blues gar zu stark wurde, installierte ich aus Trotz eine der fünfhundert Wetter-Apps. Denn davon gab es im Windows Phone Store auf wundersame Weise mehr als genug.

Das Lumia 930 war dann das letzte Windows Phone, das ich mir kaufte: Noch größer, noch schwerer, mehr Megapixel und dazu ein großartiges Display mit ohne Glance-Screen. Ach, egal. Dafür hatte es eine Rechenleistung, die für Windows Phone mindestens zweimal ausreichte. Die Sache mit den Apps wurmte mich allerdings schon. Aber Joe Belfiore hatte versprochen, dass das App-Gap bald geschlossen sein würde.

„We’re all gonna look back on the end of 2014 as the ending of the app-gap for Windows Phone. The 3rd ecosystem is decidedly here!“

– Joe Belfiore, CVP of Microsoft, via Twitter

Inzwischen gab es auch eine Reihe wirklich guter Kamera-Apps: Oneshot, Proshot oder Camera 360. Warum man die allerdings nicht mit der dedizierten Kamerataste starten konnte, werde ich nie verstehen. Vermutlich die Sicherheit oder sowas.

Wachsende Zweifel

Nach Windows Phone 8.1 kam dann eine ganze Weile gar nichts. Das GDR1-Update rüstete ein paar Nettigkeiten nach, aber im Großen und Ganzen herrschte Stagnation. GDR2 schließlich erhielt mein Lumia 930 nicht einmal offiziell, sondern blieb wenigen Geräten wie dem Lumia 640 vorbehalten. Über Apps musste man sich ebensowenig Gedanken machen wie über Fitness-Armbänder oder Smartwatches: es gab einfach kaum welche. Natürlich waren immer die bösen Smartwatch-Hersteller schuld, die meine Plattform garstig von den Segnungen der Technikwelt fernhielten. In stillen Minuten beschlich mich allerdings doch der Zweifel: Was, wenn diese Hersteller Windows Phone nicht unterstützen, weil die Technik im Hintergrund einfach Murks ist?!?

Überhaupt hatte ich zunehmend Zweifel. Livetiles zum Beispiel waren ja eine tolle Sache. Aber wenn meine Spritpreis-App mir auf der Kachel einen 20 Minuten alten Preis anzeigt, kann das an der Tankstelle wirklich teuer werden. Klar, Windows Phone kann die Kacheln nur alle 30 Minuten aktualisieren. Deshalb ist es ja so stromsparend. Aber oft waren Live-Kacheln eigentlich witzlos, denn ich startete ja doch jedes Mal die App, weil ich der Kachel nicht trauen konnte. Und warum bekam Microsoft den Appstore eigentlich nicht in den Griff? Fake-Apps und Suchergebnisse, die zuerst Fake-Apps anzeigen, sind nicht so wahnsinnig praktisch. Und warum ist der Akku meines Lumia 930 morgens einfach leer, obwohl ich es abends bei 60% im Flugzeugmodus auf den Nachttisch gelegt habe? Aber sicher würde es bald ein Update geben, das all diese Kleinigkeiten beseitigten würde.

Das können die doch nicht ernst meinen?!?

Und tatsächlich, Microsoft kündigte eine Update an. Und was für eins! Windows 10 auf allen Geräten, egal ob Desktop, Tablet oder Smartphone. Eine Milliarde Windows 10 Geräte. Bald auch für mich: Mit Windows 10 Mobile.

Preview-Versionen kannte man im Windows Phone-Lager schon länger. Die GDR-Updates gab es stets als Preview, und sie waren eine wunderbare Möglichkeit, sich an den Telefon-Providern vorbei frühzeitig das nächste Update zu organisieren. Auch Windows 10 Mobile gab es in so einer Preview. Nachdem ich die erste Vorschau-Version von Windows 10 Mobile auf meinem 930 installiert hatte,  ging mir nur ein Satz durch den Kopf:

„Die erste Technical Preview von Windows 10 auf dem Handy war ein unbenutzbarer Haufen Softwareschrott.“

Die Oberfläche hakte an allen erdenklichen Stellen, zentrale Funktionen waren nicht vorhanden oder defekt und Apps ließen sich nicht installieren. Die reflexartige Entschuldigung der Community war freilich:

„Ja, das muss auch so sein, schließlich ist es eine Technical Preview. Das ist noch gar nicht fertig. Wir erhalte hier einen Einblick in die Arbeit von Microsoft. Wir sollten dankbar sein und nicht meckern.“

Meine Dankbarkeit äußerte sich allerdings eher im Rollback auf Windows Phone 8.1. Ich probierte noch einige weitere Previews aus, die allerdings ähnlich verheerende Eindrücke hinterließen. Und ich begann mich zu fragen, was die da bei Microsoft eigentlich trieben. Windows 10 sah nicht aus wie die Neuerfindung des Windows-Rads, sondern eher wie ein aufgehübschtes Windows Phone 8.1. Aber warum zur Hölle lief es dann nicht so?

Und selbst die späteren „fertigeren“ Versionen von Windows 10 Mobile (der Eingeweihte weiß, dass Windows 10 per Definition niemals „fertig“ sein wird) zeichneten sich durch haarsträubende Aussetzer aus: Gedenksekunden, inkonsistente Bedienoberfläche, ein Möchtegern-Browser mit ausgeprägtem Hang zum Hängen. Einige Live-Tiles versagten schlicht ihren Dienst und die Räume-Funktion wurde vorsichtshalber gleich gestrichen.

Sie können es einfach nicht. Oder wollen nicht.

Windows 10 wurde Ende 2014 angekündigt. Wir haben nun bald Mitte 2016. Anderthalb Jahre sind eine lange Zeit. Vor allem wenn man bedenkt, dass weitere Updates für Windows Phone 8 kurzerhand mit dem Argument gestrichen wurden, alle Kräfte auf Windows 10 Mobile konzentrieren zu wollen. Ein Jahr ohne nennenswerte Updates ist hart, wenn man sieht, wie sich die Konkurrenz entwickelt. Es gab keine neuen Funktionen, keine behobenen Bugs, keine Sicherheits-Updates. Jeder Missstand wurde mit dem Verweis auf Windows 10 und dem Microsoft-Mantra „bald“ abgebügelt.

„There will be Windows 10 upgrades for all Lumia Windows Phone 8 devices 🙂 And we will release new Windows 10 models in the future!“

– Offizieller Lumia Account via Twitter

Die Krönung war dann die Offenbarung, dass man Windows 10 Mobile entgegen früherer Ankündigungen doch nicht für alle Lumia-Altgeräte veröffentlichen könne. Performance und so.

Wenn man die sog. Demo-Szene kennt und weiß, was die Jungs heutzutage noch aus einem C64 herauskitzeln, dann offenbart das Gerede von schlechter Performance vor allem die Unfähigkeit (oder den Unwillen) zur Optimierung der eigenen Software. Es ist ja nicht so, dass Anno 2014 die Hardware der jetzt exekutierten Altgeräte nicht bekannt gewesen wäre. Es gibt also zwei Möglichkeiten:

  1. Microsoft dachte, man würde Windows 10 Mobile auf diesen Geräten hinbekommen. Microsoft hat sich geirrt und sich überschätzt wie ein pubertierender Jüngling, der ein Mädchen beeindrucken will.
  2. Microsoft wusste sehr wohl, dass das nichts werden würde. Aber um keine Wellen zu machen, hat man erstmal Quark erzählt. Bis es soweit ist, würden die Besitzer von Altgeräten ohnehin gewechselt haben. Wohin auch immer.

Nicht können. Nicht wollen. Beide Möglichkeiten finde ich beunruhigend. Dass man zwischenzeitlich auch den versprochenen Cloud-Speicher bei Onedrive gekappt hat, passt da ins Bild: Microsoft hatte sich offenbar auch hier wieder verkalkuliert. Vor allem zeigt sich für mich an den Beispielen Onedrive und Windows 10 Mobile für Altgeräte, dass eine wie auch immer geartete „Treue“ zu Microsoft sich nicht auszahlt. Diesem Konzern sind seine Bestandskunden egal.

Die Build 2016 bestätigt diesen Eindruck, insbesondere den Aspekt des „nicht wollen“. Terry Myerson hat es deutlich gesagt: Er will im kommenden Jahr das Interesse der Entwickler nicht unbedingt bei Windows 10 Mobile wecken. Noch mal zur Erinnerung: Entwickler, das sind die, die Apps schreiben. Die sollen sich also bitte erstmal nicht um Windows 10 Mobile kümmern. Gehen Sie bitte weiter, es gibt hier nichts zu entwickeln.WPKillerfeature3

Windows Phone hatte einmal Potential: Kacheln, Räume, Hubs, native Social Media-Integration, Offline-Navigation, Kamerataste, Office. Davon ist nichts übrig. Na gut, Kacheln, die sich nur alle 30 Minuten aktualisieren. Wirklich hübsch.

Alles andere ist weg oder findet sich in besserer Qualität bei der Konkurrenz. Und mit der Aussicht auf ein System, das der Hersteller verwaisen lässt und das nun hochoffiziell außerhalb des Fokus der Entwickler liegt, würde ich Windows 10 Mobile nicht mal mehr den anspruchslosesten Nutzern empfehlen.

Einen würdeloseren Abschied für Windows Phone hätte ich mir beim Kauf meines Lumia 800 nicht vorstellen können.

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