Android Wear, Google und das Ende der Unschuld

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Alle paar Jahre passiert es: Produkte, die vorher nicht da waren, erobern den Markt, Hersteller werfen bestehende Konzepte über Bord und nichts ist mehr so, wie es einmal war. Dass 2014 das Jahr der Wearables werden würde, hat niemand ernsthaft bezweifelt und Pebble sowie Android Wear haben das auch bewiesen. Eine Meldung von heute hat aber das Zeug, für einen noch viel tiefergehenden Umbruch zu sorgen: Google verweigert den Herstellern die Anpassung der Android Wear Oberfläche und mischt sich damit in bisher nicht gekanntem Maße in das Nutzerlebnis seiner Kunden ein.

Das Ende der Pubertät

Android ist für Google eine absolute Erfolgsstory. Die Zahlen, die Sundar Pichai Mitte letzter Woche auf der Google I/O 2014 präsentiert hat, sind an Superlativen kaum zu übertreffen: Millionen hier, Milliarden da. Der Smartphonemarkt gehört – was Nutzer und aktive Geräte angeht – unzweifelhaft Android.

Er gehört aber nicht unbedingt Google.

Zwar läuft auf all diesen Geräten Android, aber dank der optischen und funktionalen Anpassungen, die Samsung, HTC, LG, Sony und Co dem reinen Android-Grundgerüst aufzwingen, ist meist wenig von Googles Vision seines Betriebssystems übrig. Mit dieser Offenheit sind Google und Android groß geworden und haben die Herzen der Hersteller erobert, die sich nicht nur bei der Gestaltung der Geräte, sondern auch bei der Gestaltung der Software voneinander abgrenzen konnten. Mit dieser Offenheit hat Android den Ruf des unangepassten, Alles-Ist-Möglich-Rebellen erworben: Wahre Techniknerds greifen zu Android und modden, flashen und basteln, was die Software hergibt.

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Spaß vorbei: Bei Android Wear behält Google die Design-Kontrolle

Mit dieser rebellischen Anfangsphase ging lange Zeit aber auch sehr viel Ballast einher: Instabilitäten und optische Grausigkeiten zwischen Gingerbreads Kinderstube und Ice Cream Sandwichs Neon-Look haben es Einsteigern und Ästheten nicht immer leicht gemacht. Aber das ist eben der Preis der Freiheit und schließlich auch erklärtes Gegenkonzept zu Apples goldenem Käfig, der zwar eine ruckelfreie Edelbedienung erlaubte, aber dem Nutzer auch viel zu oft und viel zu sehr einschränkt.

Doch die Pubertät ist vorbei. Google wird erwachsen. Und zum Erwachsenwerden gehört Verantwortung, Verantwortung für das Nutzererlebnis der Kunden. Die entscheidende Nachricht? Google schmeißt die naive Unschuld des „Alles geht“ über Board und schottet sich ab. Die neuen Mitglieder der Android Familie, Android Auto, Android Wear und Android TV werden gegenüber allen optischen Anpassungen der Hersteller abgeriegelt.

Apples Weg als Leitbild?

Google hat gelernt, dass in Zeiten, in denen selbst Smartwatches Gigahertz-CPUs und hochauflösende Farbdisplays besitzen, der Kampf um die Nutzer nicht mehr auf dem Daten- und Leistungsblatt geführt wird. Stattdessen stehen Design, Bedienung und Nutzerspaß im Vordergrund, also genau jene Gebiete, die Google und Android bisher zugunsten der Freiheit der Hersteller haben schleifen lassen. Apple hat von Anfang an den anderen Weg gewählt: Engste Vorgaben, drastischste Bevormundung und geradezu schleichend langsame Öffnung gegenüber neuen Trends. Damit hat Apple aber stets den Vorteil gehabt, dank der engen Kontrolle über Soft- und Hardware jederzeit das Nutzerlebnis seiner Kunden kontrollieren zu können. Von der E-Mail App bis zur Auflösung der App-Icons war stets kontrollierbar, wie der Kunde mit dem Apple-Gerät interagiert. Updates konnten effektiv und langfristig für alle Geräte angeboten werden.

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Apple und iOS8: Ist der goldene Käfig jetzt Vorbild für Google?

Indem Google einen Teil seine Anfänge nun hinter sich lässt und bei Android Wear und Co selbst die Zügel in der Hand behält, versetzt es sich in die Lage, für die kommenden Geräte und Systeme zentral Updates zu verteilen, Änderungen im Design konsequent durchzusetzen und vor allem: Android Wear, Android TV und Android Auto bleiben so Android Wear, Android TV und Android Auto, nicht Samsung Wear (powered by Android) oder Sony Auto (powered by Android). Der Spaß ist vorbei, jetzt wirds ernst. Das Nutzerlebnis ist zu wichtig, als das Google bei der zweiten Welle der Android-ifizierung der Welt noch auf Touchwiz, HTC Sense oder Sony Xperia UI Rücksicht nehmen könnte.

Auf dem Weg zum Einheits-Betriebssystem?

Nicht nur Android Wear und Co kommen unter die Knute, auch mit Android One greift Google nach der Kontrolle über Hard- und Software. Interessanterweise geht die Enwicklung bei Apple genau in die entgegengesetze Richtung. Mit der auf der WWDC 2014 angekündigten Öffnung von iOS 8 für Fremd-Keyboards, Widgets und Sharing-APIs geht Apple einen Schritt raus aus dem Totalitarismus und erkennt ebenfalls, dass der Nutzer erwachsen geworden ist. Als im Jahr 2007 das erste iPhone vorgestellt wurde, musste Apple Pionierarbeit leisten und Konzepte wie Touchbedienung, Pull-Down-To-Refresh oder Scrollen in die Köpfe und Fingermuskeln des technikfernen Normalnutzers kriegen. Diese Zeiten sind vorbei. Auch Apple Nutzer wollen direkt aus der Fotos-App Bilder via Whatsapp Threema verschicken, Tastaturen abseits des alten QWERTZ-Musters verwenden oder vielleicht sogar einen eigenen Standardbrowser konfigurieren. So gehen wir auf kurz oder lang einen Weg, der schlussendlich zu AndroiOS führen muss: Dem Einheits-Betriebssystem mit der vermeidlich perfekten Balance zwischen Kontrolle und Freiheit. Google und Apple werden ihre Kinderstuben wohl nie vergessen, aber sowohl die Öffnung von iOS 8 als auch die Strenge, die Google bei Android Wear an den Tag legt, sind Ausdruck dieses Wegs.

Für mich besteht daher kein Grund zur Trauer, wenn Google jetzt beim Design von Android Wear hart durchgreift. Trotzdem wird dieser Schritt bei vielen Android-Fan(boy?)s sicher einen heftigen Kratzer im Selbstverständnis hinterlassen, bringt er doch den Mythos des offenen Systems arg ins Wanken. Auch bei euch? See you in the comments!

 

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